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STOLZER LETZTER

Wir befinden uns ungefähr bei Kilometer 18, als mein aktueller Laufpartner Erich keucht: „Bei der Anmeldung bin ich immer sehr mutig.“ Ich lache. „Diesen Satz stehle ich dir.“ „Geschenkt.“ Mein erster Ultra-Marathon ist Geschichte. Ich wurde – ehrlich! – stolzer Letzter. Ein Erlebnisbericht aus einem der schönsten Plätze Österreichs..

Das Startzeichen in Lackenhof zum 50-km-Lauf rund um den Ötscher, gespickt mit 1850 Höhenmetern, lautet „3, 2, 1“ – und dann setzt sich das Feld in Bewegung, als würde es sich um einen 100 Meter-Sprint handeln. Ich werde heute tausend Tode sterben, denke ich mir beim Loslaufen, der erste überfällt mich nach 1200 Metern in der ersten, kurzen Bergauf-Passage. Ich überlebe diesen Moment der Schwäche, Umkehren ist ohnehin keine Option. (Obwohl: Wenn, dann würde es sich jetzt noch am ehesten auszahlen.) Aber weiter. Die nächsten acht, neun Kilometer führen bergab, ich laufe Kilometerzeiten unter 5:30 Minuten und bin souverän Letzter. Die nächsten, die mir gefährlich werden könnten, sind 200, 300 Meter vor mir unterwegs.

Doch noch ist nichts gewonnen. Ein Marathon ist lang, ein Ultra noch länger. Am Trefflingfall geht es noch alleine vorbei, hinauf nach Puchstuben hole ich eine Gruppe ein, Erich und ein paar andere, die sich für den GGUT, den Großglockner Ultra-Trail eingeschrieben haben. 110 Kilometer, 6500 Höhenmeter. „Respekt“, meine ich. Es fällt der Satz vom Mut bei der Anmeldung, und dieser ist auch für mich selbst so wahr. Nur dass die einen in der Champions League unterwegs sind und ich in der zweiten Klasse Süd.

Die Steigung will kein Ende nehmen. „Warum tue ich mir das nur an“, keuche ich vor mich hin und sterbe wieder ein paar Tode. Erich lacht. „Eine verlorene Wette?“ „Nein.“ „Midlife-Crisis?“ „Ja.“ Er lacht nochmals. „Eine Harley-Davidson hätte es auch getan.“

Erich ist dann mal wieder weg. Ich laufe mein Tempo, komme nach vier Stunden bei der Zeitkontrolle bei Kilometer 30 in Erlaufboden an. Wer hier in fünf Stunden nicht durch ist, wird aus dem Rennen genommen, hatte es beim Briefing geheißen: Vorgabe also erfüllt.

Das schönste Stück des Ultra-Laufs steht mir jetzt bevor: die Ötschergräben! Sie sind ein Monument der Natur erster Güte. Auf Wanderwegen und Holzstegen geht es über rund zehn Kilometer dem Ötscherbach entlang hinein zu dessen Ursprung. Es ist eng, „rempelt bitte keine Wanderer oder Klosterfrauen, die auf dem Weg nach Mariazell sind, in den Bach“, hatte Cheforganisator Herbert Egger noch ersucht. Kein Problem, zu diesem Zeitpunkt gehe ich schon mehr als ich laufe. Wobei: Hier vorbei zu hetzen würde dem Augenblick nicht gerecht. Und nebenbei sichere ich meinen letzten Platz ab.

Die Labstation bei Kilometer 35 – wie all jene zuvor und danach - wartet mit reichhaltigem Buffet auf: Kekse, Riegel, Trockenfrüchte, Bananen, Kabernossi, Wasser, Iso, Cola. „Ich bin mit 100 kg losgelaufen, zurückkommen werde ich mit 105…“, scherze ich, als ich mich wieder auf den Weg mache. 3000 Meter später will ich einen anderen Läufer, ohne Startnummer, also – denke ich – privat unterwegs, vorbeiwinken. „Kann ich nicht, ich bin der Schlussläufer des Marathons“, sagt mir Thomas, und somit habe ich für die letzten zwölf Kilometer quasi einen persönlichen Betreuer, mit dem ich den Mira-Wasserfall bewundere.

Noch einmal wird es spannend im Kampf um den letzten Platz. Josef ist sich bei einer Abzweigung unsicher, wartet zu, verliert Zeit. Plötzlich sind wir zu dritt, aber nicht lange. Nach einem giftigen Anstieg hinauf zu Kilometer 40 „beim Jägerherz“ läuft er auf einer (zugegebenermaßen: langweiligen) Forststraße auf und davon. Die letzten 300 Höhenmeter zum Riffelsattel bewältige ich in einem Zug in für mich guter Zeit – und bin dann am Ende. Gottlob geht es die letzten fünf Kilometer nur mehr bergab.

Als 149. und Letzter, in 8:25:33 Stunden (das sind 10:06 Minuten/Kilometer) erreiche ich das Ziel und erhalte tosenden Applaus. „Ihr seid alle Sieger“, schallt die Stimme des Moderators aus den Boxen, als glücklicher, stolzer Finisher fühle ich mich wirklich. Und als kleiner, demütiger Mensch im Vergleich zur Größe und Majestät der Natur.

Wie kann man den Ötscher-Ultramarathon in einem Wort beschreiben? Na: abwechslungsreich!

Veronika Limberger, Startnummer 2, hat mit der fünfbesten Laufzeit die Damenwertung am ersten Tag gewonnen. Bei der Pastaparty am Freitagabend hatte ich sie persönlich kennen gelernt, und ich wünsche ihr vor dem Sonntaglauf viel Erfolg im Kampf um den Gesamtsieg (den die Läuferin des Salewa Store Wien – Dynafit auch realisiert). Es geht nicht über den „rauen Kamm“, das ist schade, doch der Ötscher ist nebelverhangen, weiter oben wird es sicher regnen, denke ich. Ist der Kamm nass, dann ist er nicht nur rau, sondern stellenweise rutschig und somit gefährlich. Die Organisatoren haben eine gute Wahl getroffen.

Bevor es losgeht, plaudere ich mit Verena über Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Vor acht, neun Jahren haben wir gemeinsam im selben Unternehmen gearbeitet, dann bin ich gegangen, später sie. Facebook sei Dank – ganz aus den Augen verloren haben wir uns nie, allerdings auch nie wieder persönlich getroffen. Bis heute, 4. Juni 2017. „Vielleicht sehen wir uns bei der Tour de Tirol“, meine ich. „Na ja, eventuell laufe ich die Woche zuvor den Berlin-Marathon, dann wird’s mir zu viel…“

Die Ersatzstrecke ist leider nur eine Ersatzstrecke, sie führt zuerst um Lackenhof, dann die Skipiste hinauf zum Ötscher-Schutzhaus, dann noch einen dreiviertel Kilometer weiter zum Wendepunkt, und wieder hinunter. Hinauf halte ich mit Karin vom deutschen Trail Team OWL Schritt, hinunter nimmt sie mir pro Kilometer rund eine Minute ab… 18,5 km und 1030 Höhenmeter zeigt mein elektronischer Wegbegleiter letztlich an, und die Endzeit liegt bei 2:54:42 Stunden. Damit schaffe ich es nicht auf das Podest der letzten drei, werde 201. auf 204 Teilnehmer. Aber ich will mich nicht beklagen. Der Ötscher-Ultramarathon 2017 war ein tolles Erlebnis. Die Schmerzen in den Beinen werden vergehen, und wie sagt Shane Falco, gespielt von Keanu Reeves, im Film „The Replacements“? „Pain heals. Chicks dig scars. Glory... lasts forever.“

Noch kann man sich nicht für die Ausgabe 2018 anmelden. Aber wenn nur irgendwie möglich, bin ich wieder dabei. Aus (zumindest) diesen fünf Gründen:

1 - Die Ötschergräben. Vergiss Schloss Schönbrunn in Wien, vergiss den Salzburger Dom, vergiss das Goldene Dachl in Innsbruck. Solltest Du nur einen einzigen Ort in Österreich aufsuchen können, komm in die Ötschergräben.

2 - Absolut perfekte Organisation und tolles Preis-Leistungs-Verhältnis. Das ist bei anderen Veranstaltungen, und ganz besonders beim Vienna City Marathon, nicht so.

3 - Allerorts an der Strecke freundliche, sympathische und lächelnde Mitarbeiter. Immer für einen guten Schmäh zu haben. „Man sollte den Riffelsattel abflachen“, schlage ich vor. „Wir haben schon damit begonnen“, antwortet er und deutet auf eine (vom Wasser ausgespülte) Rinne, „aber weiter sind wir noch nicht gekommen“.

4 - Der raue Kamm. Wenn das Wetter mitspielt. Irgendwann wird es passen.

5 - Die Trailrun-Szene. Okay, es war mein erster Ultra-Marathon und mein erster Trailrun-Wettbewerb. Ich bin also kein Maßstab. Dennoch, hier leiden alle für die anderen mit. Hier sind alle eine einzige große Familie. (Und ich bin stolz, zwei Tage lang dazu gehört zu haben.)

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