MEIN RENNEN, MEINE VERANTWORTUNG
Was Großes, Wichtiges, "Lebensveränderndes" machen - ja, will ich. Etwas, was "unmöglich" scheint, realisieren - ja, bin dabei. Ultratrails bieten sich da recht gut an. Aber ganz ehrlich: Wie wichtig ist das wirklich? Wie viel Risiko bin ich bereit, auf mich zu nehmen oder Verantwortung auf andere Schultern abzuladen?!
Ultra Trail Lago d'Orta 2019: 100 Kilometer, 5000 Höhenmeter, im strömenden Regen und auf rutschigsten Single Trails. Episch oder einfach nur dumm?
Es war beim Lavaredo Ultra Trail 2021, der damals noch nicht unter „by UTMB“ lief. An der letzten Labe war es Abend geworden, der Himmel war dunkel und in der Ferne ging ein Gewitter nieder.
„Betrifft uns dieser Wetterumschwung?“, fragte ich einen Helfer. „Nein, nein, das ist in einem anderen Tal“, sagte er, „alles gut.“
Beruhigt lief ich weiter.
20 Minuten später stand ich nicht nur im strömenden Regen, sondern an einem Punkt, an dem zwischen Blitz und Donner nicht einmal bis eins gezählt werden konnte. Wenn ich nach oben schaue, trifft mich der Blitz im Auge, dachte ich mir.
Wieder zehn Minuten später stürzte ich, brach mir den rechten Oberarm und saß bald darauf im Auto auf dem Weg ins Krankenhaus von Cortina. Am Funk hörte ich eine Diskussion mit vier, fünf Personen der Rennleitung mit, die sinnloser nicht hätte sein können.
„Was wollen wir machen? Abbrechen, aufhalten, weiterlaufen lassen?“ „Na ja, da sind Leute echt mitten im Gewitter.“ „Erzählt mir lieber was Neues.“ „Hm, vielleicht wollen wir noch zuwarten?“ „Solange, bis es einen erwischt?“ „Keine Ahnung, sorry.“ „Freunde, so geht das nicht, wir müssen da was tun.“ Und so weiter.
Als ich beim Krankenhaus ausstieg, tat es mir fast leid, dieses Gespräch nicht weiter verfolgen zu können. Jedenfalls schien es zu keiner Entscheidung gekommen zu sein, es wurde nicht abgebrochen oder aufgehalten. Und es ist gottlob für alle mehr oder weniger gut ausgegangen. Auch ich ziehe einen Armbruch dem Umstand vor, vom Blitz getroffen oder erschlagen zu werden.
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Die Nachrichten von Lauffreunden und –freundinnen vom Hochkönigman und vom Mozart 100, beim denen widrige bis ärgste Wetterbedingungen herrschten, haben mich nachdenklich gemacht, und ich habe einmal mehr den Sinn und Unsinn des eigenen Tuns hinterfragt.
Als ich 2019 beim GGUT kläglich scheiterte, brach für mich eine Welt zusammen, es war eine Niederlage, nach der ich Wochen später noch heulte. In sieben Wochen bin ich wieder dort, ich freue mich drauf, ich hoffe auf gutes Bergwetter (Coach Schiemer: „Das kannst du heute schon im Kalender vermerken, dass es Ende Juli dort gewittern wird!“), ich kann es kaum erwarten, die Runde zu komplettieren.
Doch ich werde im hinteren oder hintersten Teil des Feldes unterwegs sein, ich bin nicht einer, für den der GGUT gegen die Mittagszeit nach 14, 15, 16 Stunden beendet ist und der sich dann für den Nachmittag noch was anderes ausgemacht hat. Also weiß ich auch, dass es einen Veranstalter braucht, der für rund 30 Stunden den geschützten Rahmen liefert, mit Labestationen, Bergrettung, Notärzten, und der mir und anderen ermöglicht, so eine Geschichte relativ gefahrlos in Angriff zu nehmen.
Doch wie wichtig ist das, was ich mache, wirklich? Wie wichtig sind der GGUT und all diese anderen Rennen für mich, für andere, wirklich? Wenn es darum geht, die Natur zu genießen, warum wandere ich nicht in zwei, drei, vier Tagen die Strecke ab? Wenn es darum geht, mir einen Kick zu holen, warum gehe ich nicht zum Bungee-Jumping oder Tandem-Fallschirmspringen? Wenn es darum geht, mich zu beweisen: Das Leben würde genügend andere Alternativen bieten.
Wahrscheinlich ist es von allem ein bisschen. Und wahrscheinlich lässt der, siehe oben, geschützte Rahmen eines Events die Aufmerksamkeit und die Eigenverantwortung sinken, nach dem Motto: Der Veranstalter wird schon wissen, was er tut, immerhin habe ich ja gezahlt, da hätte ich jetzt schon gerne das „all inclusive“-Paket mit Naturerlebnis, Kick, Selbstbestätigung, Finishermedaille, 15 Minuten Ruhm.
Dort, wo ich unterwegs sein werde, sind die Veranstalter erfahren und routiniert, und ich fühle mich bei ihnen gut aufgehoben. Aber sie können nicht in jeden einzelnen Teilnehmer hineinschauen und wissen, was jeder und jede von diesen will und braucht. Und deswegen: Ich will mein Bestes geben - doch vor allem will ich in brenzligen Umständen Eigenverantwortung beweisen.
Denn zuallererst bin ich selbst für mich verantwortlich.
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