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LÄUFERISCHE INTELLIGENZ

Mario Stecher war Schlussläufer der österreichischen Nordischen Kombinierer, die am 15. Februar 2006 in Turin und (heute vor genau acht Jahren) am 23. Februar 2010 in Vancouver Gold im Team-Wettbewerb gewonnen hatten.

Bei den Spielen in Vancouver 2010 liegen wir nach dem Springen an dritter Stelle hinter Finnland und den USA. Die Finnen sind die Kandidaten für die Goldmedaille. Sie haben ausgezeichnete Läufer, aber wegen ihres miserablen Materials werden sie auf Rang sieben zurückgereiht. Doch die US-Amerikaner sind in Bestform; mit ihnen werden wir uns wohl abmühen müssen.

Berni Gruber macht den Rückstand fast zur Gänze wett, er übergibt mit einem Defizit von 3,7 Sekunden. David Kreiner bleibt an Todd Lodwick dran. Felix Gottwald hängt Johnny Spillane um 14,1 Sekunden ab. Und dann bin ich an der Reihe, mit Bill Demong im Nacken. Als Schlussläufer kann man unheimlich viel gewinnen - aber auch unheimlich viel verlieren.

Vier Jahre zuvor war ich mit einem Rückstand von 20,8 Sekunden auf den Deutschen Jens Gaiser ins Rennen gegangen. „Lasst den Rückstand nicht größer werden als zwanzig Sekunden, und ich kann das Ding drehen“, hatte ich Michi Gruber, Bieles und Felix vorher noch gesagt. Dadurch hatte ich mich selbst in die Pflicht genommen. Doch ich wusste, dass Jens’ Qualitäten als Läufer nicht an die meinen heranreichten. Wenn ich mir meine Kraft für die fünf Kilometer gut einteilte, konnte ich es schaffen.

In Vancouver läuft der Ski hervorragend. Er stammt aus dem Bestand der österreichischen Biathleten. Die Serviceleute der beiden Sparten arbeiten hervorragend zusammen – das war nicht immer so gewesen. Aus purer Freundschaft und Sympathie leihen uns die Skijäger, allen voran der Kärntner Rudi Janach, und deren Techniker ihre Latten. So soll es sein, wenn schon einmal Möglichkeit dazu besteht! Österreich ist ein kleines Land. Wir müssen mit den wenigen Ressourcen, die wir haben, klug und umsichtig haushalten. Mein Ski ist bereits von Berni Gruber gelaufen, dann von unserem Serviceteam gereinigt und neu gewachst worden. Die Serviceleute rund um Martin Pfurtscheller, unseren „Guru“ für Technik und Schliff, haben uns über Jahre hinweg begleitet und unterstützt. Ohne sie wären viele Erfolge unerreichbar geblieben. Und nun strebe ich, mit einem Langlaufski, den sie präpariert hatten, der Verteidigung des Olympiasiegs entgegen.

In Turin hatte ich Jens Gaiser gegen Ende der ersten Runde, also nach 2500 Metern, eingeholt. Ich taktierte ein wenig und attackierte ihn am letzten Anstieg. Im Ziel war aus einem Rückstand von zwanzig Sekunden ein Vorsprung von 15,3 Sekunden geworden. Danach hatte der Cheftrainer festgestellt, er wüsste gar nicht mehr, warum er so aufgestellt habe. Aber das lag auf der Hand: Er hatte sich so entschieden, weil es die beste Wahl war – nach einem Springen, das wir mit zehn Sekunden Rückstand auf Deutschland auf Rang zwei beendet hatten. Man überlegt, wie die eigene beste Aufstellung aussehen könnte und versucht abzuschätzen, wie die Konkurrenten das Rennen angehen würden. Nicht wir hatten uns mit der Startaufstellung für das Langlaufrennen vertan, sondern die großen Nachbarn: Sie wollen mit ihren schnellsten Läufern auf der Position eins und drei die Konkurrenz vorzeitig entscheiden und Jens Gaiser auf eine Triumphrunde schicken. Doch auf dem Niveau, auf dem wir mittlerweile arbeiteten, war keiner so überlegen, dass er mit den anderen Katz und Maus spielen konnte.

In Vancouver holt mich Bill Demong – beinahe erwartungsgemäß – auf der letzten Schleife ein. Wir liefern uns einen Kampf Schulter an Schulter. Schließlich, auf dem letzten Kilometer, attackiert mich der Amerikaner und versucht mich abzuschütteln. Je näher das Ziel kommt und je länger ich an ihm dranbleibe, desto mehr steigen meine Chancen auf den Sieg. Ich weiß es; er weiß es. In der Abfahrt hinunter ins Skistadion wähle ich bei der vorletzten Kurve die äußere, weitere, allerdings auch höhere Spur. Dadurch verliere ich zwar für kurze Zeit den Vorteil des Windschattens, aber ich erziele einen Geschwindigkeitsüberschuss, der mir auf den nächsten Metern zu Gute kommt. Meine läuferische Intelligenz ermöglicht es mir, scheinbar mühelos an Demong vorbeizuziehen und ihn abzuhängen. Wir laufen beide am Anschlag, und in diesem Moment wissen wir auch beide, dass die Entscheidung bereits gefallen ist. Auf der Zielgeraden bleibt mir sogar noch genug Zeit zum Jubeln wie in Turin vier Jahre zuvor.

Und wieder sind wir Olympiasieger. Wir feiern die dritte Medaille bei diesem Event in Folge. Schon in Salt Lake City (2002) war ich auf dem Podest gestanden, ich war gemeinsam mit Bieles, Michi Gruber und Felix Dritter geworden.

Der zweifache Olympiasieger und Team-Weltmeister Mario Stecher, der insgesamt zehn Medaillen bei internationalen Großveranstaltungen gewonnen hatte und aktuell ORF-Experte für die Nordische Kombination ist, nannte seine 2015 erschienene Autobiographie „Ausdauernd erfolgreich“. Obiger Text ist diesem Werk entnommen.

 
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